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Niklas Luhmann Systemtheorie und Protestbewegungen

Wenn nicht anders angegeben stütze ich mich auf folgenden Text:

Hellmann, Kai-Uwe und Luhmann, Niklas (1994): „Systemtheorie und Protestbewegungen“, in: neue soziale Bewegungen 2, 53 – 69.

 

Das Interview mit Niklas Luhmann mit dem Titel „Systemtheorie und Protestbewegungen“ ist im Forschungsjournal „Neue Soziale Bewegungen“ im Heft 2 im Juni 1994 erschienen.

Interviewer Kai-Uwe Hellmann[1]

  • Hellmann ist ausserplanmässiger Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie an der technischen Universität in Berlin.
  • Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Gesellschaftstheorie, insbesondere die Systemtheorie.

 

Niklas Luhmann[2] 

  • lebte von 1927 bis 1998
  • studierte Rechtswissenschaft in Freiburg im Breisgau
  • studierte später Soziologie in Münster
  • war 1968 der erste Professor der Universität Bielefeld
  • entwickelte eine Sozial- und Gesellschaftstheorie –> Systemtheorie
Niklas Luhmann als Comicfigur
Niklas Luhmann als Comicfigur

 

Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann[3]

  • hat einen Universalitätsanspruch
  • ist interdisziplinär anwendbar
  • ihr Ziel ist die Beschreibung der Gesellschaft
  • Die Systeme unterscheiden sich von ihrer Umwelt
  • Die Systeme haben jeweils
    • einen binären Code.
      • in der Wissenschaft: wahr/unwahr
      • in der Gesundheit: krank/gesund oder behandelbar/nicht-behandelbar
    • eine Funktion
      • in der Wissenschaft: die Erzeugung neuen Wissens
      • in der Gesundheit: Wiedererlangung gesellschaftlicher Teilhabe
    • eine Leistung
      • in der Wissenschaft: die Bereitstellung neuen Wissens
      • in der Gesundheit: die Heilung
    • ein Programm
      • in der Wissenschaft: Theorien und Methoden
      • in der Gesundheit: die Behandlung
    • Der Grundbegriff der Systemtheorie ist Kommunikation.

 

Interview Systemtheorie und Protestbewegungen

  • Die Frage des ersten Teils des Textes lautet zusammengefasst: „sind Proteste ein System?“
  • Luhmann: „wenn man soziale Bewegungen überhaupt als Systeme bezeichnen will, dann gibt es einen ganzen Apparat von Fragestellungen, den man ausprobieren muss“. (S. 53)

 

Soziale Bewegungen als autopoietische Systeme

  • Wenn soziale Bewegungen überhaupt Systeme sind, dann sind sie autopoietisch.
  • Autopoietisch heisst, die Systeme produzieren und reproduzieren sich selbst und nehmen nur das aus ihrer Umwelt auf, was an ihre Kommunikation anschliesst.
  • Systeme haben binäre Codes. Bei Protestbewegungen ist jedoch kein klarer binärer Code vorhanden.
  • Das Protestsystem grenzt sich von anderen ab, respektive das Protestthema wird herausgegriffen und kommunikativ behandelt.
  • Protestbewegungen definieren ein Problem und adressieren Systeme. Beispiel Umweltfragen: Protestbewegungen adressieren Energiekonzerne. Die Protestierenden haben jedoch nicht den Anspruch das Problem selbst zu lösen – sie wollen, dass andere das Problem lösen.

 

Commitments

  • Commitments sind Verpflichtungen/Bindungen. Bei Commitments braucht es keine Bindung an die Funktionssysteme.
  • Wenn jemand gegen Atomkraft protestiert, ist es gut möglich, dass er auch für Frauenrechte ist.
    –> der Begriff der Commitments ist aber höchst problematisch, weil sich die Themen und die Teilnehmer_innen von Protest zu Protest ändern.

 

Angst und Mobilisierung

  • Damit ein Protest stattfinden kann, braucht es immer „eine Abkopplung von Gründen, von externen Gründen, von Anlässen, von Ursprüngen“. (S. 58)

 

Emotionen

  • Die Emotionen dienen bei Protesten zur Vernetzung.

 

Zur Klassifikation sozialer Bewegungen

  • Es ist Luhmann wichtig, dass Proteste nicht in ein Schema gedrückt werden – lieber lässt er „eine gewisse Unordnung in seiner Theorie“ zu. (S. 60)
  • Luhmann findet nicht, dass man soziale Bewegungen auf Interaktions- und Organisationsbasis analysieren sollte, sondern auf der Gesellschaftsbasis.

 

Inklusion und Exklusion

  • Es gibt heute nicht mehr so eine starke Exklusion wie früher. Man kann heute nicht einfach jemand von der Gesellschaft ‚verbannen‘. Die Exklusion erfolgt heute nur über die Inklusion (beispielsweise wenn jemand ins Gefängnis muss).
  • Es kann aber zu Enttäuschungserlebnissen kommen und das kann ein Auslöser für soziale Bewegungen sein.
  • Die Inklusion und die Exklusion sind für Luhmann nur von Bedeutung wegen den Enttäuschungserlebnissen.
  • Solche Enttäuschungserlebnisse finden meist an andern Orten statt: in den favelas (das sind Armutsviertel), in der dritten Welt etc.
  • Luhmann: „Diejenigen, die durch Ausschluß, durch wirklich harten Ausschluß betroffen sind, sind also nicht die Keimzelle von sozialen Bewegungen, sondern das sind Leute, die davon gehört haben, die nicht selber ausgeschlossen sind, die andere Arten von Lebensproblemen zu bewältigen haben. Ihr Problem ergibt sich aus dem Abbau von schichtmäßiger und familialer Sicherheit für das ganze Leben. Also vorrangig geht es um Probleme der eigenen Karriere: Es gibt eigene Zukunft, die von Faktoren abhängig ist, die man nicht kontrollieren kann. Und das macht sensibel für das Mitempfinden ganz anderer Lebenslagen.“ (S. 62)

Funktionen sozialer Bewegungen

  • Das Ziel der Proteste ist mittels der Kommunikation in andere Systeme, wie zum Beispiel in das politische System, einzudringen.
  • Die Proteste könnten ohne Massenmedien gar nicht funktionieren, denn durch die Massenmedien wird auf die Proteste aufmerksam gemacht.

Funktion und Operation

  • Protestbewegungen haben keine klare Funktion.

 

Soziale Bewegungen als Immunsysteme

  • Mit Immunsystem meint Luhmann: „den Realitätstest durch systeminterne Unterscheidungen, die nicht draußen angetroffen werden können.“ (S. 66)
  • Luhmann: „Soziale Bewegungen bieten die Chance eines Realitätstestes der modernen Gesellschaft, die sich in den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann. Es gibt keine Gesamtbeschreibung, es gibt das, was die Massenmedien beschreiben, was also mit den sozialen Bewegungen eng zusammenhängt (…) die sozialen Bewegungen haben dann die Funktion, Realitäten anderer Art ins Gespräch zu bringen, indem sie Widerspruch anmelden, etwa in der Frage, wie die Frauen behandelt werden, oder wie die Rüstungsindustrie auf Steuersubventionen reagiert.“ (S. 66)

 

Zur Evolution moderner Gesellschaft

  • Dass die Soziologie sagen kann, wie die Gesellschaft wird, ist eine Utopie.
  • Was kann nach der funktionaldifferenzierten Gesellschaft kommen?

 

Zur Zukunft sozialer Bewegungen

  • Luhmann vermutet, dass die sozialen Bewegungen die Entwicklung der modernen Gesellschaft begleiten werden und nicht in die Funktionssysteme eingebaut werden können.

Von Simone Bühlmann

 

 

[1] Vgl. Technische Universität Berlin: Kai-Uwe Hellmann http://www.soz.tu-berlin.de/menue/mitarbeiterinnen/privatdozentinnen/kai_uwe_hellmann/
(Stand: 18. Oktober 2017).

[2] Vgl. Niklas Luhmann-Archiv http://www.uni-bielefeld.de/soz/luhmann-archiv/ (Stand: 18. Oktober 2017).

Vgl. 50 Klassiker der Soziologie: Biografie Niklas Luhmann http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/luhmann/26bio.htm (Stand: 18. Oktober 2017).

[3] Vgl. Michael Gerth (2005): Kleine Einführung in die Systemtheorie nach Niklas Luhmann, http://www.luhmann-online.de/luhmann-einfuehrung.htm (Stand: 18. Oktober 2017).

Vgl. Niklas Luhmann-Archiv http://www.uni-bielefeld.de/soz/luhmann-archiv/ (Stand: 18. Oktober 2017).

Vgl. Luhmann, Niklas (2000): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Lucius & Lucius Stuttgart.

Vgl. Luhmann Wiki: Code http://de.luhmann.wikia.com/wiki/Code (Stand: 18. Oktober 2017).

Vgl. Luhmann Wiki: Funktionssysteme http://de.luhmann.wikia.com/wiki/Funktionssysteme (Stand: 18. Oktober 2017).

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